„Aufschieberitis“ ist ein komplexes Thema. Deshalb sollte man das hier am besten gleich lesen.
Procrastination
Wer ist der schlimmste Feind des Studenten? Der Prof, der einem mit seiner strengen Bewertung die Note in der VWL-Klausur vermasselt hat? Der spießige Vermieter, der mit Rauswurf droht, weil die Party neulich etwas aus dem Ruder gelaufen ist? Das Bafög-Amt, das den Antrag schon wieder abgewiesen hat? Oder doch der fiese Kommilitone, der einem kürzlich den letzten Seminarplatz vor der Nase wegschnappte?
Alles falsch. Jeder, der schon mal eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben oder für eine Klausur gelernt hat, weiß: Der größte Feind des Studenten ist die Aufschieberitis, auf Englisch „Procrastination“. Jenes eigentümliche Verhalten, das man oft dann an den Tag legt, wenn man etwas tun soll, wozu man absolut keine Lust hat — was jedoch unbedingt getan werden muss, weil es a) wichtig ist, b) kein anderer für einen tut und c) sich nicht von selbst erledigt. Aussitzen — wie oft bei Politikern zu beobachten — funktioniert also leider nicht. Sonst hieße es ja auch „Aussitzeritis“.
Wie bei jedem rätselhaften Verhalten gibt es auch hier verschiedene Erscheinungsformen. Während die einen apathisch auf dem Sofa sitzen und auf den Fernseher starren oder auf dem Smartphone rumdaddeln und immer leicht panisch werden, wenn die alte Wanduhr zur vollen Stunde schlägt („Wieder eine Stunde rum“), weshalb sie schließlich alle Uhren aus ihrem Blick- und Hörfeld verbannen, werden andere unvermutet hyperaktiv. Sie räumen den Dachboden auf („War dringend nötig“) oder fangen an, ihre CD-Sammlung alphabetisch zu sortieren. Für den Abend verabreden sie sich mit einem Freund, den sie schon „seit Ewigkeiten“ nicht mehr gesehen haben. Wieder andere entwickeln einen Plan nach dem anderen, wie das Lernpensum in der verbleibenden Zeit zu bewältigen ist, doch umgesetzt wird keiner.
Die Aufschieberitis hat es sogar bis ins medizinische Wörterbuch geschafft. Wie im Englischen bedient man sich hier des Lateinischen und nennt es „Prokrastination“ (von procrastinare = vertagen). Forscher der Uni Mainz meinen, es handele sich um eine psychische Störung, von der vor allem junge Männer betroffen seien. Sie würden seltener in Partnerschaften leben, seien häufiger arbeitslos und verfügten über ein geringes Einkommen. Ihre Studie kommt zu dem Ergebnis, dass „ausgeprägtes Aufschiebeverhalten von wichtigen Tätigkeiten mit Stress, Depression, Angst, Einsamkeit und Erschöpfung einhergeht sowie die Lebenszufriedenheit verringert“.
Man muss es jedoch nicht gleich so hoch aufhängen, sondern kann es auch als übliches menschliches Verhalten sehen. Denn Hand aufs Herz: Wer kann von sich behaupten, dass er noch nie etwas, zu dem er keine Lust hatte, verschoben hätte. Man sollte halt nur darauf achten, dass es nicht überhand nimmt.
Sogar Wolfgang Amadeus Mozart konnte sich dem nicht immer entziehen. Er war bei seinen Auftraggebern dafür bekannt, Deadlines einfach verstreichen zu lassen oder erst auf den allerletzten Drücker zu liefern. Auch Johann Wolfgang v. Goethe hatte zeit seines Lebens mit Procrastination zu kämpfen. Noch im hohen Alter meinte er: „Was ist es, das ich ausführe! Im allerglücklichsten Fall eine geschriebene Seite ... und oft, bei unproduktiver Stimmung, noch weniger.“ Na klar, man muss eben warten, bis einen die Muse küsst. Die Beiden wussten das natürlich in der Tiefe ihrer Seele. Und sie wussten auch, dass sie zu Grandiosem fähig waren, wenn die Muse erst einmal mit dem Küssen loslegte.
Procrastination hat also nichts mit Bequemlichkeit oder Faulheit zu tun. Doch womit dann? Da Handlungen verschoben werden, die den Betreffenden unangenehm zu sein scheinen, kommen Psychologen natürlich auf die Idee, dass es sich um „Frustrationsintoleranz“ handele. Sie sprechen sogar von einer „Störung der Selbstregulation“: Man sei nicht in der Lage, für kurze Zeit etwas Unangenehmes auszuhalten, um langfristig etwas Positives zu erreichen. Mit dem Aufschieben werde also ein negatives Erlebnis vermieden, und es komme zu Ersatzhandlungen. Eine sehr mechanistische Sichtweise, die leider vielen zu eigen ist, für die Psychologie vor allem mit Standardverhalten und Statistik zu hat. Doch Menschen sind viel komplexer und unterschiedlicher, als es sich diese Art von Psychologen vorstellen können. Man kann nur froh sein, dass Mozart, Goethe und viele andere ihnen nicht in die Hände gefallen sind. Die Kulturgeschichte wäre um einiges ärmer.
Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Wer mit seiner Procrastination zurecht kommt, darunter nicht oder nicht sonderlich leidet, weil er weiß, dass am Ende ein passables und oft sogar ein gutes bis sehr gutes Ergebnis steht, sollte sich entspannt zurücklehnen und einfach wie bisher weitermachen. So wie es Mozart und Goethe taten.
Wer hingegen darunter leidet, möglicherweise jedesmal nahe an einem Herzinfarkt lang driftet und am Ende gar so blockiert ist, dass er nichts mehr gewuppt bekommt, sollte sich nach ein paar Tricks umsehen, wie er die Sache besser in den Griff bekommt.
Da gibt es beispielsweise die Fünf-Sekunden-Regel: Sobald einem was einfällt, das unbedingt erledigt werden muss, sich aber nicht so prickelnd anfühlt, zählt man von Fünf auf Eins — und legt sofort damit los. Laut der amerikanischen Motivationsexpertin und Bloggerin Mel Robbins kommen bei diesem Countdown erst gar keine negativen Assoziationen auf. Stattdessen wird der präfrontale Cortex aktiviert — jene Region unseres Gehirns, die für bewusste Entscheidungen zuständig ist. Wer aus Gewohnheit gern Entscheidungen oder unangenehme Dinge aufschiebe, könne diese Verhaltensmuster, so Robbins, damit einfach durchbrechen. Am besten gleich ausprobieren.
Wem die Fünf-Sekunden-Regel nicht weiterhilft, weil der innere Schweinehund zu mächtig ist, kann die vor ihm liegende Aufgabe stattdessen in überschaubare Häppchen aufteilen und sich nach jeder Etappe mit kleinen Belohnungen selbst motivieren — etwa indem man sich ein leckeres Abendessen oder einen Kinobesuch gönnt.
Hilfreich ist auch ein fester Arbeitsrhythmus. Damit ist nicht gemeint, dass man morgens pünktlich um acht am Schreibtisch sitzt. Wer erst nachmittags oder abends zur Hochform aufläuft, sollte die Aufgabe, etwa das Lernen, in diese Phase verlegen. Er muss den Zeitplan dann aber auch einhalten.
Rituale und Belohnungen helfen also gegen Procrastination — ganz nach der Devise „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“. „Wichtig ist, dass solche Rituale aus kurzen, leicht abschließbaren Tätigkeiten bestehen“, meint die Psychologin Julia Ellen Haferkamp. Man könne vor Arbeitsbeginn etwa seinen Lieblingssong hören. Ist er zu Ende, fängt man an.
An der Uni Münster befassen sich gleich mehrere Psychologen mit der Aufschieberitis. Die „Prokrastinationsambulanz“ macht Therapievorschläge und steht nicht nur den Studenten und Mitarbeitern der Universität offen. Auf ihren Internetseiten kann man sich einem Selbsttest unterziehen, ob man so sehr zum Prokrastinieren neigt, dass man Hilfe benötigt.
Freischaffende Künstler kämpfen öfter mit Aufschieberitis als andere. Da sie ihr eigener Chef sind, sagt ihnen niemand, wie sie ihre Zeit einteilen sollen und wie groß das tägliche Arbeitspensum ist. Diese Freiheit ist zwar einerseits schön — viele, deren Arbeitstag „durchgetaktet“ ist, sehnen sich danach. Sie kann aber auch zur Belastung werden. Vor allem wenn man keine Arbeitsroutine entwickelt hat, die einem Halt gibt.
Von vielen Künstlern und Schriftstellern weiß man, dass sie sich Ritualen unterwerfen, um Procrastination zu verhindern. Thomas Mann war so ein Fall: Zwischen neun und zwölf Uhr schrieb der Autor der „Buddenbrooks“, nachmittags und abends erledigte er Korrespondenz, ging spazieren oder empfing Besuch. Klingt ganz gemütlich.
Auch Honoré de Balzac war ein Freund fester Arbeitszeiten. Allerdings arbeitete er, wenn andere schliefen, nämlich in den frühen Morgenstunden und — nach einem kurzen Nickerchen — noch einmal von 9.30 bis 16 Uhr.
Ob solche festen Zeiten tatsächlich vor Procrastination schützen, wird allerdings von einigen bezweifelt. Sie könnten auch zur fixen Idee werden und Arbeits- und Denkblockaden auslösen. Dann lieber prokrastinieren — aber richtig. Etwa indem man sich bewusst macht, dass gelegentliches Prokrastinieren gar nicht so schlimm ist. Etwas „auf die lange Bank zu schieben“, ist schließlich nur menschlich. Nicht wenige — man nennt sie „aktive Prokrastinierer“ — schwören sogar darauf, weil sie unter Zeitdruck auf die besten Ideen kommen. Mozart und Goethe würden wahrscheinlich zustimmen.
Wer es nicht darauf ankommen lassen will, dem sei der Anti-Stundenplan von Neil Fiore empfohlen. Darin trägt man nicht die Aufgaben, Meetings und Projekte ein, die anliegen, sondern die Freizeit, die einem — auch zwischen zwei Arbeiten — zur Verfügung steht. Laut Fiore hilft das, Stress abzubauen und die Arbeitszeit effektiv zu nutzen, da man sich bewusst macht, dass der Tag — anders, als wir oft meinen — nicht nur aus Arbeit besteht und die Arbeitszeit eigentlich sehr begrenzt ist. Da es schwierig sei, stundenlang konzentriert zu bleiben, rät Fiore außerdem, die Arbeit in 30-Minuten-Einheiten zu erledigen — mit Päuschen dazwischen.
Also: Zuerst rausfinden, ob man überhaupt unter seiner Procrastination leidet oder ob sie zum eigenen kreativen Prozess gehört. Dann ein paar Tricks ausprobieren. Wann? Tja, wie wäre es mit sofort?